Aber der schönste Augenblick am Tag war und ist
immer noch der Moment, wo die Post gebracht wird.

Ottmar Wolfangel


Ottmar Wolfangel - Kriegsjahre zählen doppelt

Feldpost aus den Jahren 1914-1918


Ottmar Wolfangel, 1924

Briefe sind Fenster in eine lebendige Vergangenheit. Nach 90 Jahren ein solches Fenster zu öffnen, ist meine Absicht als Herausgeberin dieses Buches. Ist es denn von Interesse durch die Feldpostbriefe meines Großvaters Ottmar Wolfangel aus dem 1. Weltkrieg und seinen Lazarettbericht einen Blick auf die Kriegsjahre 1914 - 1918 zu werfen?

Es faszinierte mich, mehr über meinen Großvater zu erfahren, den ich nur als alten, gebrechlichen Mann kennen gelernt habe. Von ihm selbst habe ich über vergangene Zeiten nichts erfahren und ich war noch zu jung, um ihn danach zu fragen, bevor er 1969 starb. In seinem Bericht und seinen Briefen lernte ich ihn nun als jungen Mann kennen und begab mich auf eine Reise in die Vergangenheit, auf der ich nicht nur ihm, sondern auch seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern begegnete: Walter, Hermann, Hedwig, Kurt und dem kleinen Bruder Ernst, genannt Schneck.

Je länger ich mich mit den teilweise schwer zu entziffernden Schriften beschäftigte, um so mehr fesselte mich dieser direkte, lebendige Einblick in die Zeit des 1. Weltkriegs. Hier wird der Krieg zu Beginn durch die Augen eines 17jährigen gesehen, der sich in dieser Zeit zum Erwachsenen entwickelt. Zwei Selbstzeugnisse erlauben diesen Einblick: eine Sammlung von etwa 150 Feldpostbriefen und Postkarten sowie ein Bericht über die ersten drei Jahre als Rotkreuzpfleger in einem Kriegslazarett in Frankreich. Letzterer ist deutlich reflektierter als die Briefe, manchmal sogar selbstironisch.

Die Schriften bieten nicht nur zahlreiche zeitgeschichtliche Details über das Leben im Lazarett, sondern auch, durch seine Reaktionen auf die elterlichen Briefe, viele Einzelheiten über den Alltag in Deutschland. Auch geben seine politische Äußerungen einen Einblick in die Stimmung unter den Kriegsteilnehmern. Gegen Ende des Krieges wird seine zunehmend kritische Haltung deutlich spürbar und sein Blick richtet sich auf die Planung seiner persönlichen Zukunft nach dem Krieg.

Das Buch besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: dem Bericht Drei Jahre beim Roten Kreuz und, im zweiten Teil, den chronologisch geordneten Feldpostbriefen. Im Anhang ist der wesentlich später entstandene Lebenswadel aufgenommen, ferner ein kurzer Lebenslauf. Drei Jahre beim Roten Kreuz ist ein Bericht, den Ottmar Wolfangel 1917 als Weihnachtsgeschenk für seine Eltern geschrieben hat. Er umfaßt ein Heft von knapp 60 Seiten in deutscher Schrift. Um diese Erinnerungen etwas zu strukturieren, habe ich sie in elf Kapitel unterteilt und mit Überschriften versehen.

Die Feldpostbriefe sind chronologisch geordnet und umfassen den Zeitraum von April 1915 bis November 1918. Sie sind, mit Ausnahme von sieben französischen Briefen, in deutscher Schrift geschrieben und fast alle an die Eltern gerichtet, das Pfarrersehepaar Wolfangel in Kirchheim am Neckar. Um dem Leser die Orientierung und das Wiederfinden bestimmter Briefe zu erleichtern, habe ich jeden Brief mit einer Überschrift versehen. Oft berührt ein einzelner Brief vielfältige Themen, deshalb habe ich häufig ein für mich bemerkenswertes Detail als Überschrift gewählt.

Faksimile 1918 Im Anhang findet sich ein sehr lebendig erzählter Lebensrückblick Ottmar Wolfangels aus dem Jahr 1966. Dieser Bericht in Briefform, den er Lebenswadel nennt, ist an den Jugendfreund Otto Emil Mörike gerichtet und war vermutlich für ein Klassentreffen bestimmt. Pfarrer Mörike, ein Nachfahre des Schriftstellers Eduard Mörike, war als Mitglied der Bekennenden Kirche ein entschiedener Gegner des NS-Regimes. Für die Verdienste bei der Rettung verfolgter Juden wurde zu Ehren des Ehepaars Mörike 1975 in der Allee der Gerechten in Jerusalem ein Baum gepflanzt.

Um die Authentizität der Dokumente zu wahren, habe ich die Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht verändert. Vergessene Wörter sowie Erklärungen zu Abkürzungen und ungebräuchlichen Wörtern habe ich in eckigen Klammern eingefügt. Unleserliche oder fragliche Stellen sind mit einem Fragezeichen gekennzeichnet.

Ohne die Hilfe einiger Mitarbeiter wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Wiltrud Baur stellte die Feldpostbriefe zur Verfügung, Irmgard Wolfangel-Walter entzifferte den Bericht Drei Jahre beim Roten Kreuz, Erika Schardt danke ich für die Entzifferung der Briefe und die Aufzeichnung auf Tonkassetten. Erich Pfisterer übersetzte die in Französisch abgefaßten Briefe und ohne die Unterstützung meines Mannes wäre aus dem Manuskript kein Buch geworden. Ich danke allen ganz herzlich für ihr Engagement, ihre Geduld und die viele Zeit, die sie sich für dieses Projekt genommen haben!

Ich betrachte die Veröffentlichung der Aufzeichnungen Ottmar Wolfangels als einen kleinen Beitrag zu einer Geschichte von unten. Zugleich möchte ich die Begegnung mit einem liebenswerten, humorvollen Menschen ermöglichen, die hoffentlich nicht nur mir Freude macht.

Margit Gill

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E.Gill, Stand: 2003/05/23