Was fur nutz aber haben müge, wer Jesaiam lieset,
das wil ich den Leser lieber selbs erfaren lassen, denn erzelen.

M. Luther (Einleitung zum Buch Jesaja)

Jesaja - Alttestamentarisches Urgestein

Beginn der Qumranrolle 1QIsa des Jesaja

Wer kennt sie nicht, die Zitate aus dem Buch Jesaja des Alten Testaments?

Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern
(Jes. 2,4)

Dann wohnt der Wolf beim Lamm,
der Panther liegt beim Böcklein.
Kalb und Löwe weiden zusammen,
ein kleiner Knabe kann sie hüten.

(Jes. 11,6)

Wortgewaltige Monumente eines visionären Sehers, der zum Urgestein jüdischer und christlicher Theologie zählt? Tatsächlich offenbart ein erstes unbefangenes und laienhaftes Lesen des Buches ein verworrenes Bild, das durch sprunghafte Aussagen, verwirrende Brüche, brutale Bilder und abrupte Wechsel in der sprachlichen Gestaltung gekennzeichnet ist. Beinahe drängt sich das psychologische Bild eines durch Einsamkeit und Außenseitertum geprägten leidenden Geisteskranken auf. Freilich zeigt schon ein oberflächliches Lesen, dass der Text eine innere Struktur besitzt, z.B. im geschichtlichen Anhang in den Kapiteln 36-39.

Eine nähere Analyse zeigt deutlich, dass das Buch mindestens drei verschiedene Autoren hatte: Jesaja (auch Protojesaja), Deuterojesaja und Tritojesaja, die Jahrhunderte voneinander getrennt lebten. Selbst bei Protojesaja stammen wohl nur ca. 40% von Jesaja selbst und so ergibt sich, je näher man hinschaut, eine umso komplexere Struktur, die eher einem Flickenteppich als einem kohärenten Werk gleicht. Dies erklärt deshalb teilweise den Eindruck, der sich beim unbefangenen Lesen ergibt und zeigt wie notwendig eine sorgfältige Exegese ist.

Nach einem Jahr der intensiven Beschäftigung mit dem Buch Jesaja anhand des Kommentares von H. Wildberger, einer Dissertation von F. Hartenstein zum zentralen Kapitel 6 des Buches und anderer Literatur zu Jesaja, ist die anfängliche Verwirrung einer klareren Sicht gewichen. Aus einem visionären Monolithen Jesaja wurde ein komplexes Gebilde, aus einer kohärenten Botschaft wurde eine in den lokalen theologischen Traditionen Jerusalems verankerte Rede, aus den Zusagen eschatologischen Heils wurde ein Memento vor menschlicher Überheblichkeit, aus expressionistischen Wortgewittern flammenden Zorns wurden wohlüberlegte und präzise formulierte Sentenzen.

Was sagt uns der Prophet heute? Jedem an theologischen Fragen Interessierten ist es sicher eine Freude die Geburtsstunde der Eschatologie bei Jesaja zu erkennen und zu studieren. Ferner erschließt sich einem im Studium des Jesajabuches die komplexe Zusammensetzung dessen was wir heute als Judentum kennen mit seinen verschiedenen, früher getrennten, Einzeltraditionen. Und jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzung? Hier ist es für mich insbesondere das Faszinosum eines fest in seinem Glauben verankerten Menschen, der auf dieser Grundlage in wohlüberlegter Rede die von ihm erkannten Mißstände benennt und vor menschlicher Überheblichkeit warnt. Jesajas unbequeme Wahrheiten behalten einen weiterhin gültigen Kern. Dass in diesem Zusammenhang selbst die heutige christliche Kirche einen Nachholbedarf hat, zeigt die Auswertung des sechjährigen Predigtplans der evangelischen Kirche Deutschlands, in dem von 455 Predigtstellen lediglich 6 Stellen unzweifelhaft auf den Propheten Jesaja zurückgehen.

Gill E.; Zur Geschichte der Prophetie; 3 Seiten; Exzerpt einer Vorlesung von Prof. Albertz (Heidelberg); Oberpfaffenhofen (2006).

Gill E.; Jesaja - Buch, Prophet, Botschaft; 21 Seiten; Zusammenfassung eines Kommentars von H. Wildberger; Oberpfaffenhofen (2006).

Gill E.; Jesajas Thronvision; 8 Seiten; Zusammenfassung und Diskussion zu F. Hartenstein "Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum", Oberpfaffenhofen (2006).

E.Gill, Stand: 2006/06/17